Last Stop Charkiw

Die Sache mit den Schubladen

Wir landen in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine. In den kommenden Tagen werden wir hier Martin Messner begleiten, der als kommunaler Experte die Stadt zu Energieeffizienz und Wirtschaftsförderung berät.

Vor unserer Abreise blieb kaum Zeit, um sich über unser Reiseziel zu informieren. Immerhin wissen wir, dass Charkiv das Industriezentrum des Landes ist. Und die östlichste Stadt der Ukraine: Die russische Grenze liegt nur 40 Kilometer entfernt. Während der Krimkrise gab es prorussische Proteste, auf dem Hauptverwaltungsgebäude der Stadt war 2015 für einige Tage die russische Flagge gehisst. Woher man den Namen Charkiw noch kennen könnte? Die Oppositionspolitikerin Timoschenko saß hier ihre Gefängnisstrafe ab.

Irgendwie gehen wir davon aus, dass uns eine graue Industriestadt mit Sowjet-Bauten erwartet, im besten Fall mit vielen Prunkstücken des Brutalismus, im schlimmsten Fall ein Meer aus tristen, uniformen Wohnblöcken. Als uns das Taxi am späten Montagabend vom Flughafen ins Hotel fährt und wir eine pulsierende Innenstadt voller junger Menschen, Bars und Restaurants passieren, wird uns klar, dass einiges nicht stimmt mit unserem Charkiw-Bild.

Das bestätigt sich auch während der Dreharbeiten mit Martin Messner, der uns mitnimmt zu verschiedenen Vorzeigeprojekten der Stadt. Wir filmen im Gorki-Park, einer extrem sauberen und modernen Parkanlage, besuchen den hippen Co-Working-Space Fabrica und sehen Anti-Cafés, in denen pro Stunde und nicht pro Getränk gezahlt wird. Und überall sind junge Menschen unterwegs – das Durchschnittsalter der Stadt scheint bei Mitte 20 zu liegen. Charkiw, so lernen wir, ist das Wissenschafts- und Bildungszentrum des Landes mit mehr als 40 Universitäten und Hochschulen.

Vom eigenen Schubladendenken überrascht zu werden, es anzuerkennen und die eigenen Vorannahmen korrigieren zu müssen – für uns ist das der schönste Nebeneffekt dieser Reise.

Mit Charkiw schließt sich für uns ein wichtiges Reisekapitel. Es ist der letzte Dreh für das Projekt „Integrierte Fachkräfte“ der GIZ, für das wir zuvor schon in Tunis, Addis Abeba, Durban, Ushgorod und Lviv unterwegs waren. In dieser Zeit haben wir viele Schubladen aufgemacht und ihre Inhalte durcheinandergebracht. Eine Unordnung, die sich gut anfühlt.